Time is Money Concept

Arbeitszeitflexibilisierung: Wer mehr arbeitet, muss mehr ruhen.

Offener Brief von Dr. Karazman an Bundeskanzler und Vizekanzler.

  • Was als Arbeitszeit-Flexibilisierung diskutiert wird, ist beim gegenwärtigen Verhandlungsstand keine Flexibilisierung, sondern eine Arbeitszeit-Verlängerung.
  • Es fehlen die Wahlmöglichkeiten der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und die entsprechende Erholungszeit.
  • Regelmäßige 12-Stunden-Dienste sollten mit einer 30 h Wochenarbeitszeit verbunden werden.

Derzeit geht es um Verlängerung, nicht Flexibilisierung
Arbeitszeitflexibilisierung repräsentiert eines der Top-Themen der gegenwärtigen innen- und wirtschaftspolitischen Diskussion. Sie als politische Entscheidungsträger sind gefordert, die Tragweite einer möglichen Lösung in ihrer Gesamtheit zu beurteilen. Als Facharzt für Arbeitsmedizin und auch als Unternehmer habe ich nicht den Eindruck, dass den sozialen und arbeitsmedizinischen Aspekten jener Raum eingeräumt wird, den diese benötigen. Die gegenwärtige Gestaltung des Themas „Arbeitszeitflexibilisierung“ ist nicht nachhaltig, weil die menschliche Verausgabung mit der Arbeitsdauer steigt – und zwar exponentiell. Ohne entsprechend verlängerte Erholungszeit sind vorzeitige Arbeitsunfähigkeit, zunehmende Krankenstände, steigende Gesundheitskosten und vorzeitige Pensionierungen programmiert. Derartige Ausgleichsmaßnahmen fehlen in der Diskussion derzeit völlig. Es geht bei der Thematik nicht nur um geldwerte Balance.

Die Kosten fressen die Vorteile
Ich prognostiziere, dass der wirtschaftliche Vorteil der ausgedehnten Arbeitszeiten durch die verringerte Produktivität der zehnten oder 12. Arbeitsstunde zunichte gemacht werden wird – von den volkswirtschaftlichen Kosten einmal ganz abgesehen.

Der Diskussion fehlt die Wahlmöglichkeit der Mitarbeiter
Eine echte Flexibilisierung bietet den Mitarbeitern Wahlmöglichkeiten zwischen kurzen und längeren Diensten, zwischen gängiger und kürzerer WAZ, zwischen Normal-Urlaub und XXL-Urlaub. Echte Optionen für die Belegschaft sind DER Hebel, um Stress, Krankheit und Frühpension zu vermeiden und Produktivität und Qualität zu verbessern. Die Präferenz für eine Arbeitszeit-Form lässt die Arbeit leichter bewältigen, wie ich und meine Mitarbeiter in etlichen Untersuchungen nachweisen konnten.

Nicht noch mehr Arbeitsstunden
Eine Ausweitung der Arbeitszeit ist nach Möglichkeit zu verhindern, weil durch Rationalisierung und Optimierung die Arbeitsintensität schon beim bisherigen Arbeitstag meist an der Grenze ist. Die hohe Rate an Burn Out belegt dies. Eine nicht ausbalancierte Ausweitung des Arbeitstages erhöht das Risiko von Krankheit und Frühpension. In vielen Berufen ist eine kürzere Dienstzeit anzuraten, z.B. Intensiv-Krankenpflege, Nachtarbeit, ÖPNV-FahrerInnen, LehrerInnen.

12-Stunden Tag braucht 30-Stunden-Woche
Die psychobiologische Verausgabung steigt exponentiell mit der Dauer des Arbeitsalltages. Eine Ausweitung des Arbeitstags verlangt daher deutlich mehr Erholungszeit als Teil der sozial wirksamen Arbeitszeit. Eine Ausweitung des Arbeitstages muss durch gleichwertigen Zeitausgleich kompensiert werden. Regelmäßige 12-Stunden-Dienste sollten mit einer 30 h WAZ verbunden werden. In die sozial wirksame AZ sind auch Wegzeit, Auf- und Abrüstzeit, Vorbereitung etc. miteinzurechnen, damit das wahre Ausmaß zeitlicher Anstrengung realistisch berechnet und genügend Regenerationszeit geplant werden kann.

Evaluierungen der Entwicklungen
Es braucht ein humanökologisches Monitoring des Arbeitsvermögens und der gesundheitlichen Qualität der Arbeitsprozesse, damit chronische Fehlanforderung und Stress, Krankheit, Frühpensionen und Produktivitätsverluste vermieden werden. Insbesondere Arbeitszeit-Veränderungen brauchen Mitsprache, Bewusstseinsbildung und Zustimmung sowie im ersten Jahr engere Evaluierung, um für Mitarbeiter wie Unternehmen gute Wege zu ebenen.

Funktionierende Beispiele
Ich habe viele Arbeitszeit-Flexibilisierungsprojekte in Österreichs Unternehmen begleitet. Heute arbeiten zehntausende SchichtarbeiterInnen z.B. mit optionalen Schichtplänen, d.h. sie verfügen über eine Wahlmöglichkeit der Wochenarbeitszeit oder Dienstlänge. Dies bringt wirkliche Flexibilisierung:

  • voest-alpine/Stahl Linz
  • Agromelamin Linz (heute AMI Linz)
  • Polyfelt Gesosynthetics
  • Nettingsdorfer Papierfabrik
  • KAV Krankenanstaltenverbund Wien
  • Münchner Verkehrsbetriebe

Ich habe dazu mehrere Bücher und wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht:

  • Das Buch „Gesunde Arbeitszeiten im Pflegeberuf“ (Hg. Generaloberin Charlotte Staudinger (KAV) und Prof. Rudolf Karazman (IBG)) befasst sich mit der Gesundheitsverträglichkeit von 12-Stunden-Schichten und ihr Effekt auf Lebensqualität und Leistungsfähigkeit..
  • Die Beratungs-website www.arbeitundalter.at von IV, AK, ÖGB und WKO wurde von mir entwickelt und enthält viele evaluierte Fallbeispiele von AZ-Flexibilisierung.
  • Im Buch „Human Quality Management–Menschengerechte Unternehmensführung“ beschreibe ich Kriterien, Wege und Beispiele für gesundheitsfördernde AZ-Gestaltung.
  • div. wissenschaftlichen Publikationen
    Dies sind Empfehlungen aus mehr als 20 Jahren wissenschaftlicher Arbeit und betrieblichen Praxisprojekten. Kurzsichtige betriebswirtschaftliche Maßstäbe reichen nicht, um der Ressource Mensch gerecht zu werden.

Rudolf Karazman

 

PS:
So bleiben ArbeitnehmerInnen im Arbeitsprozess

  • Altersteilzeit sollte nur gleitend in Anspruch genommen werden dürfen, und nicht mehr als Block.
  • Statt Senioritätsprinzip oder Zulagen wäre eine Arbeitszeit-Reduktion gesundheitsverträglicher. 
  • Statt Steuerbegünstigung für Überstunden sollte die Ausweitung des MA-Pools gefördert werden.
  • Die Zahl an Überstunden sollte mit 5 h/Woche begrenzt sein.